ANTON
HENNINGS INTERIEURS: MUSTER DER MODERNE
von
Hanne Loreck
Anton Hennings jüngste Produktion des Jahres 2001 besteht aus durchnumerierten
Interieurs, Blumenstilleben, Akt- und Architekturdarstellungen sowie ländlichen
Szenen. Die Interieur genannten Bilder dominieren jedoch, denn alle anderen
Bildgenres sind in ihnen aufgehoben: Es gibt Interieurs mit Blumenstilleben,
moderner Architekur, Akt und Blumenstrauß (Interieur No. 82, 2001)
oder Interieurs, die wiederum ein Interieur, aber auch monochrome Bilder
als Wanddekoration zeigen (Interieur No. 85, 2001). Abstrakte Wellenbilder
in modischem Pastellook (Interieur No. 86, No. 87, alle 2001) laufen ebenfalls
unter dem Titel Interieur; dieser Teil der neuen Serie könnte die
ungegenständlich gemusterte Serie der eleganten Wohnzimmerbilder,
1998, fortsetzen und damit eine zum klassischen Interieur umgekehrt verlaufende
Reflexion der Relation von Bild und Einrichtung darstellen. Wenngleich
Anton Hennings aktuelle Fortsetzung seiner seit 1995 laufenden Serie von
Interieurs aus gemalten Bildern besteht, so fließen doch nichtmalerische
Kontexte in diese Interieurs ein: beginnend mit der Installation Room
with a View, 1995, im Hotel Mercure in Potsdam über Soup with a View
desselben Jahres zu seinen verschiedenen Lounges, die er seit 1998 in
Kassel, Leipzig, Düsseldorf, Berlin, München und London konzipiert,
gestaltet und ausgestattet hat.
Die neuen Einrichtungen sind von formal einfachem, modern eckigem Zuschnitt;
das Arrangement aus einem Sofa, einigen Sesseln und einer Bogenlampe um
einen Sofatisch herum wirkt üblich. Oftmals steht der Tisch auf einem
gemusterten oder monochromen Teppich wie auf einem Bild und trägt
in größter Selbstverständlichkeit einen Blumenstrauß
samt Vase, bestehend aus einem einzigen üppig geschlungenen bunten
Farbstreifen. Decke, Boden und Wände hingegen erscheinen in artifizieller
Einfarbigkeit, von der sich der Wandschmuck abhebt – alles kann
in diesem pikturalen Raum Bildträger wie selbst Bild werden; zwischen
Teppichen und Bildern besteht in erster Linie ein Unterschied in der räumlichen
Ausrichtung und in den Dimensionen, zwischen Hängen und Liegen, Vertikaler
und Horizontaler, zwischen raumgreifend und intim.
Wir kennen die klassischen Interieurs, die die künstlerisch-ästhetische
Wende zur Moderne des 20. Jahrhunderts markieren und aus einer Zeit stammen,
in der, der heutigen vergleichbar, schon einmal von Kultur anstelle von
Kunst die Rede war. Damals hatten die angewandte gegenüber der inhaltlich
und formal konservativen ‚freien‘ Kunst den sozial und politisch
wesentlich fortschrittlicheren Status. Dieses Moment einer Umwertung motivierte
die Interieurs von Pierre Bonnard und Édouard Vuillard. Beide haben
mit ihrem linear-arabesken Ineinander von Tapeten, Gardinenstoffen und
Möbelbezügen, die gemusterten Kleider der BewohnerInnen dieser
Räume nicht zu vergessen, nicht nur atemberaubend schöne, sondern
für die spätere ungegenständliche Malerei buchstäblich
vorbildliche Interieurs geschaffen. Hier entsteht jene im Verhältnis
zum historistischen Dokument sozialen Prestiges ungeschwätzige, nichtillusionistische
Auffassung vom Interieur, die Anton Henning fortführt und mit verschiedenen
Brechungen in Bezug auf Sehordnungen und Wahrnehmungskonventionen versieht.
Seine Lust am ausschmückenden Erzählen fließt nicht in
die Details, sondern in die imaginäre Kommunikation der Bilder an
den Wänden über den Möbeln.
Finden wir in Anton Hennings jüngsten Interieurs beispielsweise menschliche
Figuren, so jedenfalls nicht als Nutzer der dargestellten Räume,
sondern als BildbetrachterInnen, jedoch in einer witzig-anti-illusionistischen
Beziehung zueinander: Bilder betrachten sich untereinander, während
sie von jenen realen BetrachterInnen angeschaut werden, für die Anton
Henning den Bildraum mit seinen Sitzgelegenheiten und wohnlichen Arrangements
einladend geöffnet hat. So scheint ein lässig hingestreckter
Pan einen Reigen – eine Silhouette aus drei weiblichen, tanzenden
Figuren in photographischen Grautönen vor einem glühend roten
Abendhimmel – genüßlich mit den Augen zu verschlingen.
Das hier romantisch verklärte Motiv erinnert an ein Schwarz-weiß-Photo
des Freikörperkultur-Photographen Gerhard Riebicke aus den 1920er
Jahren – Moderne, ein Reformprojekt bis in die Körper hinein.
Als seien Bilder transparente Scheiben – und eine selbst unsichtbare
fensterartige Projektionsfläche des Raumes in die Zweidimsionalität
zu sein, ist seit der perspektivischen Raumordnung der Renaissance ihre
Konvention –, zeigt sich Anton Hennings Pan auch gleichsam rundum,
oder zumindest von zwei Seiten (Interieur No. 82, Interieur No. 84, beide
2001).
Keineswegs aber ist die unkonventionelle, ins Bild verlagerte Betrachtersituation
das einzige Irritierende an dieser Innenraum-Serie. Auch die einzelnen
Bilder, die, gleich einer Sammlung, die Wände der diversen Salons
und Wohnzimmer schmücken, stellen sich entweder als gemalte Reproduktionen
von Gemälden heraus, die Anton Henning zuvor auch als Einzelwerke
ausgeführt hat, oder sie regten den Maler dazu an, den Studien aus
der fiktiven Sammlung später noch einen separaten Bildkörper
zu verleihen (aus der Kuhszene über der hellblauen Sitzecke von Interieur
No. 85 wird Spiel, beide 2001). Interieurs sind auf andere Weise sozial
und kulturell kodiert als abstrakte Malerei, in deren Gestus Anton Henning
einige betont schmal-lange Formate unterschiedslos in seine Serie der
Interieurs einreiht. Seine Interieurs bleiben sozial ähnlich indifferent
wie das Möbeldesign, das den unspezifischen Eindruck von Retrochic
der Bauhaus-Moderne in ihrer Aufhebung ins Design der 1960er Jahren hervorruft.
Allerdings etablieren sie eine ganz und gar nicht indifferente Bewegung
von einem Außen zu einem Innen, von öffentlich-repräsentativen
Orten, wie den Lounges, über die semiprivate Atmosphäre der
gemalten Wohnzimmer zur exklusiven Privatheit eines Schlafzimmers, das
Anton Henning in seiner Version von van Goghs Schlafzimmer in Arles in
Interieur No. 85, 2001, an die Wand über das Sofa hängt. (Pseudo)intime
Nähe gar vermitteln das über einem Zweisitzer hängende
Bild eines liegenden Aktes in Interieur No. 82, 2001, oder der Blick auf
einen üppigen, nackten Busen (Interieur No. 80, 2001). Eine solche
Blicklenkung zeigt Räume, Ambiente und Bild-Sujets als potentiell
derart erotisch aufgeladen, daß dann die zahlreichen wahlweise monochromen
oder leeren Bildflächen an den Wänden der Räume zu Projektionsflächen
par excellence werden (Interieur No. 85 und No. 83, beide 2001).
Zwar erscheinen Anton Hennings Innendekorationen zumindest insofern als
geschlechtlich neutrale Räume, als sie kein typisch Frau oder Mann
zuzuordnendes Mobiliar zeigen. Anders verhält es sich möglicherweise
mit der Farbe, orientieren wir uns zunächst an den Architektur-Analysen
aus der Zeit um 1900. Damals stand ein kraftvolles, starkfarbenes Ambiente,
das dem Besucher/Betrachter eher entgegentritt, als ihn zu empfangen,
für Männlichkeit und entsprechend für Herren- und Studierzimmer.
Mit seinem dominanten kräftigen Rosarot könnte Anton Henning
eine hochmodische Version – Styling Trendfarbe der Frühjahrs-Interior
Design-Saison ist rot – männlich konnotierter Farbigkeit gewählt
haben. Der Aspekt der Modefarbe wird jedoch aufgewogen durch die erotische
Konnotation der Blickbewegung von öffentlich zu intim, von außen
nach innen, denn das Rot hat auch den Farbton von sexuell stimulierenden
wie erregten Körperteilen und Körperöffnungen. Dem könnten
einige in den Wandbildern gemalte und auch als einzelne Bilder existierende
Motive entgegenkommen, die einen männlichen Blick so ausdrücklich,
wenn nicht sogar (selbst)ironisch inszenieren, daß das Gefälle
zwischen begehrendem Betrachter und weiblichem Seh-Objekt wiederum in
sich zusammenfällt oder durch die zahlreichen Projektionsflächen
an den Wänden aufgehoben wird. Ich hatte bereits den Pan erwähnt,
der sich – von Bild zu Bild, von Wand zu Wand – am Frauenreigen
ergötzt. Dann gibt es verschiedene propere weibliche Akte, die, idealisiert
wie Pin-ups, auf Sofas liegen, die wiederum ähnlich den abstrakten
Interieurs ornamentiert sind: die Nacktheit, die die Frau dekoriert, die
das Sofa ziert, um als Bild sowohl den anderen Bildern der Sammlung und
ihren Protagonisten zu gefallen als obendrein auch den imaginierten Bewohnern
des Salons und schließlich uns, den AusstellungsbesucherInnen.
Der vage Stil der Sixties beschränkt sich keineswegs nur auf das
Einrichtungsdesign. Was die im weiteren Sinn abstrakte Malerei betrifft,
sind die sechziger Jahre auch die Zeit des High Modernism. 1960 hatte
der New Yorker Kunstkritiker Clement Greenberg sein Manifest Modernist
Painting veröffentlicht, eine seiner letzten Verteidigungsschriften
der Ideale der seit den vierziger Jahren zunehmend international bekannt
werdenden und mit dem autoritären Gestus des Kanonischen rezipierten
Malerei der New York School. Zu diesem Zeitpunkt meinte Greenberg, sich
bereits wehren zu müssen gegen die neueren Tendenzen in der Kunst:
Werke der damals vermehrt öffentlich diskutierten Pop Art wurden
ignoriert und Frank Stellas minimalistische Black Paintings von 1958 unmißverständlich
disqualifiziert, obgleich diese die logische Konsequenz aus Greenbergs
formalistischer Forderung medienspezifischer, maximaler Reduktion darstellten.
(In Interieur No. 82, 2001, plaziert Anton Henning dann auch ein späteres
Stella-Bild im Anschnitt.) Als zentraler Abwehrtopos der modernistischen
Abstraktion galt jedoch noch immer die Tapete. Bekannt ist Greenbergs
1948 anläßlich einer Ausstellung Jackson Pollocks geäußerte
Furcht, ein „uninformiertes Publikum“ könne die Art von
ungegenständlicher, gestisch-expressiver Malerei der New York School
möglicherweise als zu dekorativ und als bloßes Tapetenmuster
verstehen. 1952 wird Harold Rosenberg, kunstkritischer Gegenspieler Greenbergs,
im Zusammenhang mit der Einführung des Begriffs Action painting von
„apokalyptischer Tapete“ sprechen. Mystizismus und kosmisch
inspirierte Modelle von Autorschaft seien an Stelle der Dialektik in der
Aktion zwischen Maler und Leinwand getreten: „Wird eine Farbtube
vom Absoluten ausgequetscht, kann das Resultat nur ein Erfolg sein“,
so Rosenbergs zynische Analyse einer sozial und kulturell prestigeträchtigen
und ökonomisch einträglichen neuen abstrakten Massenkunst. Andy
Warhol, eine Generation jünger als de Kooning, Pollock, Newman und
die anderen und deren Kunst ablehnend, nutzte die drohende Gefahr von
bloßer Wanddekoration und konterkarierte das Unternehmen „reine
Malerei“, indem er 1971 für die New Yorker Station seiner Retrospektive
das Whitney Museum of American Art all over mit blau-weiß-gelben
Kuhköpfen tapezierte. Konzeptuell gesehen verwandelte Warhol die
Ausstellungshallen also in eine Art Wohnzimmer. 1966 war der brachialmodernistische
Neubau Marcel Breuers der Öffentlichkeit übergeben worden, eine
Architektur, entworfen für eben die Riesenformate der Abstrakten
New Yorks und vielleicht auch noch günstig für die Repräsentation
der Mitte der 1960er Jahre aufkommenden Minimal Art. Breuer ist Anton
Henning kein Unbekannter, gibt es doch bei ihm den berühmten Stahlrohrfreischwinger
des Bauhäuslers unter dem lakonischen Titel Moderner Stuhl, 1993,
als Möbel im Bild – als das Objekt, mit dem man sich im ästhetischen
Programm der klassischen Moderne einrichtet.
Bedauerlicherweise konnte Warhol seine radikale Vorstellung, nichts als
seine Blumen-Siebdrucke auf die tapezierten Museumswände zu hängen,
bei den Veranstaltern nicht durchsetzen. Man einigte sich auf einen motivischen
Querschnitt durch seine Siebdruck-Produktion. Die Strategie ging dennoch
auf, denn die Frage nach ästhetischer Reinheit in der dominanten
Kunst erwies sich als ideologisch geprägte, denn hier wurden mit
Kuh-Tapete und unruhigen Bildclustern eben jene geschmacklichen Vorlieben
und die Lust am Dekorativen inszeniert, die aus der Perspektive der New
York School das „uninformierte Publikum“ gekennzeichnet haben
mögen.
Nicht von ungefähr finden wir unter Anton Hennings aktueller gemalter
Bildersammlung Kühe (Spiel, 2001; auch Kuh mit moderner Inneneinrichtung,
1996, würde ausgesprochen passend in diesem Kontext sein), Blumen
im großflächigen Reprostil Warhols und Pin-up betitelte Aktbilder.
Die Mischung dieser Sujets überführt das heilige Getue reiner
Abstraktion in diskrete und weniger diskrete Begehrlichkeiten, in denen
sich die soziale Ausschlußkategorie Geschmack mit erotischen Phantasien
unübersehbar kurzschließt. In diesem Sinn sind Anton Hennings
Bilder weder politisch noch ästhetisch korrekt. Daß das Interieur
den Rahmen stellt, mag als die Fortsetzung dessen gelten, was mit Warhol
seine spezifische modernismuskritische Note 1971 erfuhr, damals als Skandal
gewertet wurde und in Zeiten von Cross-culture und Club-Kultur anschlußfähig
geworden ist. Dort in der Ausführung eher high-tech und cool, nehmen
Anton Hennings sichtlich manuell hergestellte und die Spuren seines emotionalen
und romantischen Bezugs zu Malerei und Moderne nicht verbergenden Bilder
eine markante eigenständige Position zwischen Moderne, Postmoderne
und zweiter Moderne ein und zwar mit den Mitteln und in der Geschichte
der Malerei: Akt-Darstellungen heißen bei Anton Henning Pin-ups
(Pin-up No. 44-47, alle 2001); Blumenstilleben bestehen aus einem einzigen
bunten luftschlangenartigen Kringel (Blumenstilleben No. 60, 2001); in
Landschaften herrscht ein unverhohlen sentimental-impressionistischer
Tenor (Segelboot auf der Havel, 2001); auch durchbrechen sie in ihrem
räumlichen Illusionismus das formale und konzeptuelle Prinzip der
poppigen Abstraktion. Besonders deutlich wird das in Anton Hennings Symbol
und Markenzeichen, dem Hennling: Als romantische Ruine und ruinöse
Moderne zugleich steht die dreiarmige Amöbenform als Skulptur auf
der grünen Wiese (Interieur No. 82, 2001), mimt eine Art von abstraktem
Kaktus unter dramatischem Wolkenhimmel (Interieur No. 83, 2001) oder erscheint
in der Metamorphose einer Palme in der romantischen Phantasie über
die von Eckhart Muthesius geplante, ultramoderne Sommerresidenz für
die Frau des Maharadschas von Indore in Indien (Sommerhaus No. 2, 2001).
Ein schönes Beispiel für die witzige Umarbeitung des als unumkehrbar
geltenden chronologischen und kausalen Zusammenhangs zwischen Original
und Kopie samt seines hohen Stellenwertes in der stilkritisch und biographisch
orientierten kunstgeschichtlichen Forschung ist Interieur No. 83, 2001.
Denn Anton Hennings Interieurs schwanken zwischen eigenen Kompositionen
und Appropriationen. Interieur No. 83 stellt eine spiegelverkehrte Adaption
von Roy Lichtensteins Version von Vincent van Goghs Schlafzimmer in Arles,
1888, dar, in der es anstelle der prämodernen Binsenstühle bereits
die modernen Freischwinger gibt. Statt der Dielen van Goghs und einer
Art von grünlichem Flokati bei Lichtenstein malt Anton Henning nun
einen großzügig in poppigen Schlangenlinien gemusterten pink-voiletten
(Teppich)Boden, die ReProduktion oder Konzeption eigener Bilder (zum Beispiel
Sommerhaus No. 2, 2001) ersetzt van Goghs Dekoration seines Zimmers, und
der aus Anton Hennings Blumenstilleben No. 58 bekannte Strauß mit
den bunten Blütenflecken hängt wie ein Poster farblich ein ganz
klein wenig verschossen da, wo van Gogh und mit ihm Lichtenstein das Fenster
sah; vorallem aber überzieht ein Leerstellenprinzip auf ornamentale
Weise das ganze Bild – es stellt Objekte wie Farbflächen frei
–, um die kunstpolitische Konkurrenz zwischen Raum und Fläche,
Abstraktion und Gegenständlichkeit mustergültig zu unterlaufen.
Anton Henning hat sich die riesenformatigen Interieurs des späten
Roy Lichtenstein der 1990er Jahre genau angesehen. In ihrer bekannten
comicartigen Raster- und Strich-Manier auf weißem Grund wiederholen
sich die bürgerlich-modernen Einrichtungsobjekte des Raumes in den
Bildern an der Wand zusammen mit Selbstzitaten aus Werken anderer Serien.
Als Mise-en-abîme wird diese Form der Selbstreflexion bezeichnet,
die in der tendenziell unendlichen Vervielfachung jenen Abgrund –
das die Bedeutung von abîme – ansteuert, der sich auftut,
wenn man Bilder immer wieder nur auf Bilder, Wahrnehmungstechniken und
die Geschichte der Visualität zurückführen kann und niemals
auf ihr mutmaßlich anderes, die Wirklichkeit. Eine ähnlich
abgründige Relation zwischen Original und Kopie, Produktion und Reproduktion
finden wir, Anton Hennings Farbigkeit und Malstil näherliegend als
Lichtenstein und an die Anfänge die Moderne und des modernen Interieurs
zurückführend, bei Henri Matisse. In seinem Ölbild Das
Rote Atelier, 1911, ist die Reproduktion der eigenen früheren Werke
(zum Beispiel: Der Luxus II, 1907/08 oder Der junge Seemann, 1906) scheinbar
durch den Ort, Studio und Magazin in einem, motiviert. Zugleich trägt
dieses Atelier Züge eines Interieurs mit Stuhl, Tisch, Kommode, die
lediglich durch feine Umrißlinien aus dem über das gesamte
Bild gezogenen Rotbraun herausgearbeitet sind, während das Pflanzenarrangement
auf dem Tisch sowie die zahlreich hängenden und gestapelten Bilder
eine eigenständige Farbigkeit haben. Es ist die der jenigen Bilder,
die sie aus Matisses Werk repräsentieren, wenngleich auch hier farblich
tendenziell leicht verzerrt. In den 1910 und 20er Jahren wird Matisse
Odalisken wie eine Dekorative Figur auf ornamentalem Grund, 1925/26, malen,
in denen, wie der Titel sagt, die Dekorativität des Unter- und Hintergrunds
mit der von Weiblichkeit und männlicher Schaulust zusammenkommen.
An diesem Punkt vollzieht Anton Henning allerdings einen radikalen Wechsel,
denn er dekoriert seine weiblichen Akte zwar auf den großzügig
schlingernden farbigen Kreisen und Kringeln von Sofabezügen und Sitzecken,
führt sie dann aber ganz im Gegensatz zu seinem flächig-großzügigen
Malgestus der Interieurs im mühsamen und süßlichen Stil
eines Foto- oder sozialistischen Realismus aus und paßt sie dem
photographischen Medium der Pin-up-Vorlage in eher naiv harmloser Pose
an. (Wenn Pin-up No. 44, 2001, in jeder Hand einen Joint hält und
glasig vor sich hin starrt, dann ist das eine kleine zeitgemäß
symbolisierte List, den typischen weiblichen Akt mit vom Betrachter abgewandtem
Blick unangetastet zu lassen. Hier, wie an vielen anderen Stellen in Anton
Hennings Werk, hat List mit Lust zu tun.)
Analytisch-kritisch gebrochene Zitatmontagen wechseln mit linearen Rhythmen
hingeknallter Farbkombinationen – polymorphe Erregung und strategisch
gezielte Aneignungen halten alles zusammen. Ein neues Raster der Kunst-
und Kultur-Historie der Moderne im Sinne eines reflexiven Bildes der Gesamtmoderne
entsteht, indem Anton Henning die parallelen Geschichten von Architektur,
Design, Photographie, Film und Malerei produktiv in einem traditionellen
Medium, dem gemalten Tafelbild, zusammenführt.
Hanne Loreck, Katalog Interieurs 2001, Wohnmaschine und Vous Etes Ici,2001
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